Sprach-Kitas retten – vor Ort in der Kita Treptower Straße

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Thema InklusionKita

von Barbara Brecht-Hadraschek

Im Juli 2022 hat das das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend über das Ende des sehr erfolgreichen Bundesprogramms „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel der Welt ist“ informiert. Grund ist der von der Bundesregierung verabschiedete Entwurf für den Bundeshaushalt 2023, in dem kein Geld mehr für das Sprach-Kita-Programm vorgesehen ist. Jetzt setzt sich eine Petition für den Erhalt des Programms ein. 

Seit zehn Jahren ist unsere Kita Treptower Straße an diesem Programm beteiligt und hat ihr Profil als Sprach-Kita kontinuierlich weiterentwickelt. Vor Ort herrscht Unverständnis über die Entscheidung. Wir haben mit Katja Machnow, Fachkraft für alltagsintegrierte sprachliche Bildung, und Petra Tiedtke, Einrichtungsleiterin, über das Sprachprogramm gesprochen.

Alltagsintegrierte sprachliche Bildung

Katja Machnow (links) und Petra Tiedtke im Interview
Katja Machnow (links) und Petra Tiedtke (rechts) im Interview

Redaktion: Können Sie kurz erklären, worum es in dem Programm geht, das ja an der Kita schon seit 2012 umgesetzt wird: Welche Ziele verfolgt „Sprach-Kitas: Weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“?

Katja Machnow: An erster Stelle steht die alltagsintegrierte sprachliche Bildung der Kinder; damit einher geht das Sensibilisieren der Kolleg*innen, wie sie die Sprachentwicklung der Kinder im Kita-Alltag fördern und anregen können. Wir begleiten die Kinder sprachlich in allen Alltagssituationen, auch beim Essen, beim Händewaschen, auf der Toilette, selbst die Kleinsten am Wickeltisch. Das ist immer eine Kombination aus Sprache und Mimik. Und wir sehen, dass die Kinder so viel schneller lernen.

Neben der alltagsintegrierten Bildung fußt das Programm noch auf drei weiteren Säulen: Wir arbeiten zum einen inklusiv, also mit allen Kindern in der Kita; wir beraten Eltern, wie sie auch zu Hause ein sprachanregendes Umfeld schaffen können. Außerdem ist 2021 das Programm um die Integration medienpädagogischer Fragestellungen in die sprachliche Bildung erweitert worden.

Petra Tiedtke: An unsere Kita kommen ja viele Kinder, die noch kein Deutsch können, mit denen die Verständigung über die Sprache zu Beginn noch nicht funktioniert. Da ist es beispielsweise sehr wichtig, dass den Kolleg*innen auch bewusst wird, dass auch die nonverbale Kommunikation ganz zentral ist, dass sie darauf schauen, was das Kind zeigt, was es macht. Und wenn wir selbst sowohl verbal als auch mit Mimik kommunizieren, lernen die Kinder auch die deutsche Sprache schneller. Dafür müssen die Mitarbeiter*innen aber sensibilisiert werden, das lernen sie nicht in der Ausbildung – deshalb ist die beratende Arbeit von Katja Machnow so wichtig. Deswegen ist das Programm für Sprach-Kitas gerade für Kitas wie die unsere mit vielen Kinder nicht deutscher Herkunft sehr unterstützend.

Katja Machnow: Eine große Stärke des Programms ist die bundesweite Vernetzung und das man ganz viel voneinander lernt. Wir werden fachlich sehr gut unterstützt, haben mit Fachleuten aus dem Programm Material, Bücher und Leitfäden für die Einrichtungen entwickelt, auf die diese in ihrer täglichen pädagogischen Arbeit zurückgreifen können.

Redaktion: Wenn ich Ihre Rolle richtig verstanden habe, dann arbeiten Sie in Ihrer Funktion als Fachkraft für alltagsintegrierte sprachliche Bildung im Programm nicht „am einzelnen Kind“, sondern haben vor allem die Aufgabe zu beraten und das Know-how aus dem Programm an die Kolleg*innen weiterzugeben. Wie sehen Ihre Aufgaben konkret aus?

Katja Machnow: Ich habe zwar auf meinen eigenen Wunsch auch noch eine eigene Kindergruppe im Haus, aber 19,5 Stunden in der Woche bin ich raus aus der Kindergruppe. In dieser Zeit setze ich mich mit den Kolleg*innen auseinander, stehe beratend zur Seite, hospitiere in anderen Gruppen, videografiere und analysiere mit den Kolleg*innen ihre Arbeit. Dies dient der besseren Selbstreflexion und der Erarbeitung neuer pädagogischer Handlungsweisen. Und wenn die Kolleg*innen beispielsweise ein Kind haben, das sprachliche Unterstützung braucht –  weil es anderer Herkunft ist oder einfach ein Late Talker ist, das einfach ein bisschen später anfängt zu sprechen– dann kann ich mit den Kolleg*innen zusammen einen Förderplan erstellen, ihnen Materialien zukommen lassen, ihnen zeigen, wie man es anwendet, und dort in den intensiveren Austausch gehen. Außerdem nehme ich auch an Elterngesprächen teil, berate diese bei der Sprachentwicklung ihrer Kinder und gebe Tipps und Ratschläge.

Inklusive Umsetzung des Programms

Redaktion: Welche Kinder in der Kita kommen denn in den Genuss des Programms?

Katja Machnow:  Alle Kinder kommen in den Genuss des Programms, denn wir arbeiten ja inklusiv. Ich ziehe mir ja keine Kinder aus der Gruppe und fördere nur diese, sondern die sprachliche Bildung ist Teil des Gruppengeschehens – im ganz normalen Alltagsgeschehen, im Garten, im Freispiel, beim Ausflug – alle Kolleg*innen und alle Kinder sind dabei involviert. Und alle können von dem Programm profitieren.

Petra Tiedtke: Das Programm hat sich da auch weiterentwickelt. In der Anfangsphase ging man schon noch von der Sprachförderung einzelner Kinder aus. Doch mittlerweile geht es generell um den Spracherwerb aller Kinder, ob mit oder ohne Behinderung und unabhängig von der Muttersprache der Kinder. Und der Ansatzpunkt sind heute die Erzieher*innen. Diesen wird die Kompetenz zur Sprachbildung- und förderung vermittelt – und gleichzeitig werden die Rahmenbedingungen in der Kita geschaffen, beispielsweise gibt es heute in allen Gruppenräumen das Material aus dem Sprach-Kita-Programm, so dass jede*r darauf zugreifen kann.

Kita-Kinder vor dem digitalen Fotorahmen

 
Redaktion: Neuerdings kam ja das Thema Medienbildung/Digitalisierung im Programm hinzu. Wie hat sich das insgesamt entwickelt?

Katja Machnow:  Mit der Digitalisierung ist eine vierte Säule im Programm hinzugekommen. Wir haben in diesem Zusammenhang die Kita mit viel Material und auch elektronischen Geräten ausstatten können – und uns natürlich das Wissen angeeignet, mit diesen digitalen Medien umzugehen. Wir haben jetzt unter anderem in jeder Gruppe Smartphones, mit den die Kinder beispielsweise vormittags beim Ausflug Fotos und Videos machen können – und Tablets und digitale Bilderrahmen, auf denen wir uns die Fotos und Videos der Kinder später gemeinsam anschauen können oder auch den Eltern zeigen können. So führen wir die Kinder an digitale Medien heran und zeigen ihnen, das Smartphones nicht nur dazu da sind, YouTube-Videos zu konsumieren, sondern dass sie selbst damit lernen und forschen, etwas erschaffen können und sich darüber austauschen können. Und da sind wir wieder bei der Sprache, denn die Kinder wollen über das Erlebte erzählen und ihre Bilder zeigen, so entstehen ganz natürlich weitere Sprachangebote.

Positive Wirkungen des Programms spürbar

Redaktion: Wie hat sich die Sprachkompetenz bei den Kindern durch das Programm entwickelt?

Katja Machnow: Die Rückmeldung durch die Evaluation, die wir regelmäßig machen, das Monitoring ist sehr positiv. Und sowohl von den Eltern als auch von den Schulen kommt ein sehr gutes Feedback. Wir arbeiten ja mit den Schulen im Bezirk zusammen – und bekommen die Rückmeldung, dass unsere Schüler*innen dort sehr gut miteinander verbal interagieren können. Ein Kind muss ja nicht schon rechnen oder schreiben können, wenn es in die Schule kommt, aber es muss sich zurechtfinden, gewisse Sozialkompetenzen mitbringen, sich verständigen können, Fragen stellen, um Hilfe bitten können. Und das sind Kompetenzen, die wir den Kindern mitgeben können. Die Kinder profitieren hier sehr von dem Programm, auch weil wir eben inklusiv arbeiten: Da sind Kinder, die verbal sehr stark sind, mit Kindern zusammen in einer Gruppe, die es schwerer haben – und die unterstützen und ergänzen sich auf vielen Ebenen.

Petra Tiedtke: Das Sprachverständnis hat bei den Kindern enorm zugenommen. Und neuerdings auch die Kompetenzen, mit den elektronischen Geräten umzugehen. Es ist eine Freude zu sehen, wie die Kinder mit den Geräten umgehen, Fotoapparat, Diktiergerät, die Kinder sind da ganz schnell.  Und das es dabei nicht nur um Konsum geht, sondern das sie auch lernen, wie man damit umgeht. Das stärkt auch das Selbstbewusstsein, wenn sie beispielsweise Bilder machen und sie sehen diese nachher im Gruppenraum im Bilderrahmen; und wie stolz sie sind, wenn Mama und Papa kommen und sie berichten können, was sie da gemacht haben, das ist schon schön und fördert die sprachliche Kompetenz der Kinder.

Katja Machnow: Sie lernen auch, sich selbst anders wahrzunehmen. Wir machen mit den Kindern mitunter auch Theaterspiele, zeichnen diese auf und schauen uns danach die Videos an. Ein Kind nimmt sich im Spiel ganz anders wahr und wenn es sich danach angucken kann, wie es gespielt hat, wie Außenstehende das gesehen haben – das ist für ein Kind wahnsinnig faszinierend.

Drohende Streichung des Programms

Redaktion: Wie sehen Sie die Streichung des Programms?

Katja Machnow: Solche Programme sind gerade hier in Berlin, gerade in Brennpunkt-Kitas wahnsinnig wichtig. Wir haben so viele Menschen, die zuwandern, die Unterstützung brauchen, sei es sprachlich und sei es in der Familienarbeit – und ich habe in meiner Rolle als Fachkraft für alltagsintegrierte sprachliche Bildung einfach die Zeit und die Möglichkeit dazu, hier zu unterstützen. Wenn das wegfallen würde, wäre das ein großer Verlust.

Petra Tiedtke:  Kann sich Berlin das leisten, diese Ressource zu verschenken, an der wir zehn Jahre mitentwickelt haben? Das Programm der Sprach-Kitas ist ein pädagogisches Projekt, das sich nicht fernab der Praxis entwickelt, sondern mit der Praxis; das bettet sich in unsere pädagogische Arbeit ein. Das bringt auch eine besondere Qualität in unsere Arbeit. Das ist nichts Zusätzliches für die Kolleg*innen, sondern die Mitarbeiter*innen spüren, wenn ich das anwende, wenn ich danach arbeite, läuft es besser – die Kinder lernen schneller sprechen, ich kann mich mit den Kindern besser verständigen, die Kinder haben einen Zuwachs an Kompetenzen, die sie sonst nicht hätten. Das ist wirklich nichts, was so oben drauf gepackt wird, sondern im gesamten Alltag umgesetzt werden kann.

Und ein Team verändert sich ständig, wir haben beispielsweise sechs neue Kolleg*innen eingestellt, dazu brauche ich meine Sprachförderkraft, die die neuen Kolleg*innen mit ins Boot holt. Das schaffst du als Leitung nicht in einer Besprechung, da brauche ich wirklich jemand, der die Kolleg*innen fachlich berät, denn dieses Wissen hat eine Erzieherin nicht nach der Ausbildung.

Natürlich hätte Frau Machnow weiter ihr Know-how für ihre eigene Kindergruppe, aber die fachliche Beratung und Unterstützung für die Kolleg*innen und Eltern würde wegfallen. Früher oder später würden wir in der Sprachbildung auch im eigenen Saft schwimmen, denn über das Programm haben wir jetzt ja viele Impulse, Erfahrungsaustausch und Input von außen bekommen.  Das würde alles wegfallen.

Wir haben doch den Anspruch, dass alle Kinder ihre Bildungschancen bekommen, gerade auch in Neukölln! Allein in Neukölln haben wir mehr als 60 Sprach-Kitas, die Einstellung des Programms wäre wirklich ein enormer Verlust für die gesamte Kitalandschaft hier. Eigentlich müsste das Programm ausgebaut und verstetigt werden.

Redaktion: Liebe Kolleginnen, ich danke für das Gespräch!

Wir haben vor Ort noch ein kleines Video gedreht und bei Instagram veröffentlicht:

 

 

Hintergrund

In der Kita Treptower Straße in Neukölln arbeiten aktuell 32 Kolleg*innen, rund 150 Kinder starten in das neue Jahr 22/23. Das Sprach-Kita-Programm läuft hier seit 2012. Katja Machnow hat das Programm 2017 in der Kita übernommen und sich entsprechend weitergebildet. Bis heute ist sie mit 19,5 Stunden als Fachkraft für alltagsintegrierte sprachliche Bildung in der Einrichtung tätig.

Mehr Infos zur Kita: https://kita-neukoelln.tandembtl.de/

Mehr Infos zur Kampagne Sprachkitas retten - und zur Petition: https://sprachkitas-retten.de/

 

 

Instagram-Video

Das Video gibt einen kleinen lebendigen Einblick in die Arbeit einer Sprach-Kita.


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